Mathilde Monnier lässt ihr Ensemble beim Sommerfestival auf Kampnagel über Rasen rasen
Eine Wiese im Sommer lädt zum Herumtollen ein. Man möchte sich hineinlegen ins Gras und einfach in den Himmel schauen. Genau das tun die neun Tänzer im Stück "Tempo 76" von Mathilde Monnier auch. Die französische Choreografin erforscht auf einer Bühne das Stilmittel des Unisono und bereitet dem Publikum beim Sommerfestival auf Kampnagel einen leichtfüßigen Tanzspaß.
Synchronbewegung, womöglich noch in Formation und im Takt der Musik, ist dem zeitgenössischen, auf Individualität setzenden Tanz eigentlich suspekt. Dennoch weiß er um ihre Faszination. Monnier geht das Thema von der Peripherie her an. Ganz im Sinne von Merce Cunningham, dem kürzlich verstorbenen Meister des postmodernen Tanzes, dessen Werk bestimmend für ihre Arbeit ist. Damit, dass für ihn jeder Ort auf der Bühne gleich wichtig wurde, hob er die von einem Zentrum ausgehende Hierarchisierung des Raumes auf.
Auch Monnier spielt mit zufällig hingestreut wirkenden Anordnungen auf einer gleichzeitig natürlich und künstlich anmutenden Bühne. Tänzer tauchen auf und verschwinden. Die Alltäglichkeit ihrer Bewegungen lässt die Gleichheit mitunter kaum wahrnehmen. Sie laufen, gehen, liegen auf dem Bauch und reiben ihre Nasen im Gras. Anfangs noch uniformiert in weißen Hemden und engen Jeans, lockern schwingende Röcke und bunte Hemden später ihren Tanz merklich auf. Jeder ist für sich und doch irgendwie mit den anderen verbunden. Ein Netz von Aufmerksamkeit hält sie zusammen. Dann schauen plötzlich alle in eine Richtung, als ob Gefahr von Ferne drohe. Das Verhältnis zur Umgebung weckt emotionale Spannungen. In diesen Momenten wird der Tanz zum Theater. Um die Gesten und Blicke der Tänzer legen Kompositionen für Klavier von György Ligetis einen minimalistischen Klangteppich.
Das Licht erzählt wiederum ganz eigene Geschichten, umhüllt die Landschaft mit einem Hauch von Geheimnis, sodass wir uns von Zeit zu Zeit draußen in freier Wildbahn wähnen. Die Tränen der Tänzer bringen uns zurück in die Wirklichkeit, ihr Schluchzen und Heulen schwillt zu einem vielstimmigen Chor an, der schließlich in überschwängliches Lachen umschlägt.
Mathilde Monnier zählt zu Frankreichs avancierten Tanzkünstlern, ist eine Choreografin, die sich immer wieder neu erfindet, unter deren Leitung sich das Centre Choréographique National in Montpellier zu einem der wichtigsten Zentren des Tanzes in Frankreich entwickelt hat. Die kühle Intellektuelle überrascht neuerdings mit einer fast kindlichen Heiterkeit.
Gänzlich unspektakulär, leicht und spielerisch wie eine Fingerübung wirkt "Tempo 76" auf den ersten Blick. Ein bisschen harmlos, möchte man fast sagen. Doch klug durchmischt die Choreografin Ebenen und Strukturen, forscht seit nunmehr 20 Jahren am durchaus widersprüchlichen Zusammenspiel von Abstraktion und Emotionalität, von Theatralität und purem menschlichen Sein. Ihren Tanz verbindet sie mit den Ideen der zeitgenössischen Philosophie.
Im Poststrukturalismus eines Jean-Luc Nancy, mit dem sie 2002 einen Kongress "vertanzte", findet sie ihre geistige Heimat, die sie immer wieder neu an die Basis des Tanzes führt. Zum Thema Nachhaltigkeit hat diese Avantgardistin des Tanzes eine Menge beizutragen, selbst wenn der Tanz beim Sommerfestival vom Intendanten Matthias von Hartz nicht im thematischen Schwerpunkt verortet wird.

die welt
irina kastner
21/08.2009